Der Vertrag von Aachen sieht erhebliche Annäherungen zwischen Deutschland und Frankreich vor. Die Wirtschaft reagiert positiv und will mehr.
Deutschland und Frankreich wollen wirtschaftlich enger zusammenrücken. Das haben Bundeskanzlern Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron bei der Unterzeichnung des sogenannten Aachener Vertrags vereinbart. „Beide Staaten vertiefen die Integration ihrer Volkswirtschaften hin zu einem deutsch-französischen Wirtschaftsraum mit gemeinsamen Regeln“, heißt es in der Übereinkunft, die als Nachfolgerin des Elysee-Vertrags von 1963 gesehen wird. Auch die Sozialmodelle sollen angeglichen werden. Ein noch einzurichtender „Rat der Wirtschaftsexperten“ mit zehn unabhängigen Fachleuten soll den Regierungen dafür Vorschläge unterbreiten.
Die Ziele klingen ehrgeizig, doch sind das mehr als schöne Worte? Die Reaktionen von Wirtschaftsvertretern und in der akademischen Welt fallen jedenfalls weitgehend positiv aus, gerade angesichts der europapolitischen Unsicherheiten durch den Brexit. „Die Vertiefung der politischen Zusammenarbeit ist ein sehr positiver und wichtiger Schritt, auch deshalb, weil sich Fortschritte bei der Zusammenarbeit auf EU-Ebene in vielen Gebieten nicht oder zu langsam entwickeln“, sagte der Präsident des Ifo-Instituts, Clemens Fuest, der F.A.Z. Die Schaffung eines Wirtschaftsraums sei eine gute Idee, sofern er für Drittländer offen bleibe.
Die französische Ökonomin Emmanuelle Auriol von der Toulouse School of Economics forderte vor allem gemeinsame Initiativen im Kampf gegen die Steuerflucht multinationaler Konzerne. „Dieser Missstand untergräbt unsere demokratischen Prinzipien.“ Auch bei anderen grenzüberschreitenden Themen wie der Flüchtlingsfrage sollten Frankreich und Deutschland Zusammenarbeiten.
Manchen geht das Vertragswerk aber nicht weit genug. „Der Vertrag von Aachen steht für den Zustand der deutsch-französischen Beziehungen: symbolisch stark, aber in der Substanz schwach“, sagte Henrik Enderlein, Präsident der Hertie School of Governance, der F.A.Z. Der Vertrag blicke mehr zurück als nach vorne. „Die deutsch-französischen Beziehungen brauchen viel mehr als rote Teppiche, etwa gemeinsame politische Projekte und wortgleiche Gesetze“. Man könnte etwa im Datenschutz, bei der Förderung alternativer Energien oder der Zulassung von Medikamenten gemeinsam vorgehen, meint Enderlein.
Auch eine gemeinsame Bemessungsgrundlage der Körperschaftsteuer wird immer wieder verlangt. Die Finanzministerien in Berlin und Paris haben hier Fortschritte erreicht, doch in den Augen vieler Fachleute reichen sie nicht weit genug. Der Hauptgeschäftsführer des BDI, Joachim Lang, sieht in der gemeinsamen Steuerbasis eine „Voraussetzung für einen integrierten deutsch-französischen Wirtschaftsraum“. Doch der „Sonderweg Deutschlands bei der Gewerbesteuer“ verhindere die Harmonisierung. Der BDI fordert die Eingliederung der Gewerbesteuer in die Einkommen- und Körperschaftsteuer.
Bundeskanzlerin Merkel will in Steuerfragen, besonders wenn sie die Bürger direkt betreffen, indes realistisch sein. Eine Angleichung der Einkommensteuer „wird sicher zwei Dekaden dauern, ehe wir da eine wirkliche Konvergenz haben“, sagte sie bei einer Veranstaltung mit Macron in Aachen. Völlig unterschiedliche, jahrzehntealte Traditionen stünden dagegen. Auch im Insolvenzrecht sei die Annäherung schwierig. Umso mehr sei die Grundhaltung nötig, „Altes anzunähern und Neues gleich gemeinsam zu machen“. Im Arbeitsrecht und in der Berufsausbildung könnten Deutschland und Frankreich an einem Strang ziehen. Macron verwies darüber hinaus auf eine gemeinsame Standardisierung neuer Produkte.
Der BDI hieß den Vertrag von Aachen als „starkes Zeichen“ gut, verlängerte aber die Forderungsliste. Konkrete Schritte müssten bei der Digitalisierung und dem Thema der Künstlichen Intelligenz (KI) folgen, zudem beim gemeinsamen Export von Verteidigungs- und Sicherheitsgerät. Im Kampf gegen den Klimawandel sollten Deutschland und Frankreich ein schrittweises Preissignal für Kohlendioxid in den G-20-Staaten fordern. In der Währungsunion müssten Berlin und Paris zudem dafür sorgen, dass der geplante Eurozonen-Haushalt nicht nur Investitionen vorsehe, sondern auch eine Stabilisierungsfunktion für krisengeschwächte Länder, forderte BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang.
Im Aachener Vertrag sind besonders für die Grenzregionen erhebliche Erleichterungen vorgesehen. Dort herrschen weiterhin erhebliche Hindernisse, etwa durch die EU-Entsenderichtlinie, die in Frankreich sehr streng ausgelegt wird. Viele deutsche Mittelständler leiden unter dem Bürokratieaufwand, den die französische Verwaltung bei der Entsendung von Mitarbeitern fordert. Paris hat inzwischen die gesetzliche Voraussetzung für eine Lockerung geschaffen. „Doch es fehlen die Dekrete. Es wird aufgeschoben und vertröstet. Wir sind skeptisch, dass wir eine schnelle Umsetzung bekommen“, sagt Handirk von Ungern-Sternberg, Geschäftsbereichsleiter der Handwerkskammer Freiburg.
Frankfurter Allgemeine Zeitung – 22. Januar 2019